Unterscheidung genetischer und umweltbedingter Erkrankungen mit mathematischen Modellen

Wer seit längerer Zeit unter einer komplexeren Krankheit leidet, hat leider “gute” Chancen, weitere Erkrankungen wie ein Magnet auf sich zu ziehen. Im klinischen Alltag spricht man in diesem Zusammenhang von Multimorbidität. Das bekannte Phänomen ist eine echte Erschwernis für die erfolgreiche Therapie der ursprünglichen Krankheit.

Stefan Thurner, der Leiter des Instituts der Wissenschaft komplexer Systeme an der MedUni Wien, und Peter Klimek haben sich erfolgreich mit einem interessanten mathematischen Modell beschäftigt, das Auskunft darüber geben kann, ob sich eine Krankheit umweltbedingt entwickelt hat oder genetisch bedingt ist.

Als Ergebnis medizinischer Forschung ist bekannt, dass Krankheiten genetisch bedingt oder durch Umwelteinflüsse verursacht werden können und es gibt natürlich auch Mischformen, bei denen die Anteile ganz unterschiedlich gewichtet sein können. Ein besseres Verständnis der Ursachen komplexer multifaktorieller Erkrankungen steht nach wie vor im Fokus der medizinischen Forschung. Bekannte Vertreter dieser Krankheiten sind Diabetes, Asthma oder COPD (chronic obstructive pulmonary disease). Mit aktuellen Daten über phänotypische Informationen zu Krankheiten kombiniert mit molekularbiologischen Erkenntnissen und moderner mathematikbasierter Software für Modellrechnungen zu komplexen Systemen ist es heute möglich, die gegenseitige Beeinflussung umweltbedingter und genetischer Störungen besser zu verstehen.

Die Wissenschaft komplexer Systeme beschäftigt sich unter anderem damit, aus dem zuweilen unüberschaubaren “Big-Data-Ozean” die relevanten Informationen herauszufiltern, die das klinische Wissen bereichern und so die therapeutisch effizientesten Möglichkeiten aufzeigen. Die Wissenschaftler des Wiener Instituts der Wissenschaft komplexer Systeme entwickeln zurzeit eine optimierte Vernetzung der Daten mathematischer Modelle mit den gängigen Netzwerktheorien, auf deren Grundlage ein weites Spektrum erfasst werden kann, zum Beispiel die Kommunikationswege im Zellsystem oder auch die Analyse des öffentlichen Gesundheitssystems.

Die oben erwähnte Methode zur Feststellung der genetischen und umweltbedingten Anteile bei verschiedenen komplexen Erkrankungen haben Klimek und Thurner vor Kurzem im Rahmen einer Studie in Scientific Reports publiziert. In dieser Arbeit wurde ein sogenannter “Genetizitätsindex” definiert, der sich rechnerisch aus dem Vergleich beziehungsweise der Korrelation molekularer Netzwerke mit Netzwerken immer wieder gemeinsam auftretender Erkrankungen ergibt.

Wenn dieser Index bei einer Krankheit groß ist, dann ist diese mit erhöhter Wahrscheinlichkeit genetischen Ursprungs. Ist der Wert eher klein, dann sollten die umweltbedingten Einflüsse verstärkt ins Auge gefasst werden und beispielsweise die Wohnung oder der Arbeitsplatz auf bestimmte Giftstoffe eingehender untersucht werden. Stefan Thurner erklärt den Wert dieser Studie sinngemäß so: Mit dieser Methode können alle verfügbaren molekularen Daten automatisiert mit den Beschreibungen aller real auftretenden Krankheiten abgeglichen werden. Im Ergebnis wird die wahre Krankheitsursache transparent, ohne dass wir die genetischen Daten des Patienten genau kennen müssen.

Was dann doch etwas überraschte, war dieses zentrale Ergebnis der Studie: Krankheitsursachen sind meistens entweder rein genetisch oder fast ausschließlich auf Umwelteinflüsse zurückzuführen. Nur in seltenen Fällen sind beide Mechanismen mehr oder weniger gleichermaßen an der Ursache beteiligt. Peter Klimek ergänzt dazu noch, dass es durch das bessere Verständnis der Krankheitsursache deutlich einfacher wird, den richtigen Ansatzpunkt für die Therapie zu finden. Selbstverständlich könnte dieser neue Index auch die sichere Diagnostizierung signifikant verbessern.

Diese Studie wurde übrigens in Zusammenarbeit mit dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger durchgeführt. Dadurch konnte der beachtliche, anonymisierte Forschungsdatensatz von circa acht Millionen Patienten bereitgestellt werden. Der Erfolg dieser Arbeit war zugleich Ansporn für die Wissenschaftler, die Methoden der Komplexitätsforschung nun auch auf die pharmakologischen Wirkstoffe anzuwenden mit dem Ziel, systematisch innerhalb von Millionen Kombinationsmöglichkeiten bisher unbekannte (schädliche) Mehrfachwirkungen aufzuspüren.

Ein Beispiel, das diesen Forschungsansatz transparenter macht, ist die gemeinsame Verwendung von Statinen und Insulin. Die beiden Forscher haben kürzlich nachgewiesen, dass dadurch das Krebsrisiko bei Diabetikern deutlich reduziert werden kann. Was durch derartige Ansätze offenbar eröffnet wird, das ist eine Abkehr von der personalisierten (individuellen) Medizinforschung hin zu einer neuen, innovativen Datenscience.

Quelle:

https://www.nature.com/articles/srep39658

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