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WissenschafterInnen erforschen, wie Säugetierbecken neues Licht auf menschliche Geburtsprobleme werfen können

Forscher werfen neues Licht auf menschliche Geburtsprobleme (© Magdalena Fischer)

Komplikationen bei der Geburt sind beim Menschen keine Seltenheit. Ein Grund dafür ist, dass das weibliche Becken im Vergleich zum Neugeborenen relativ schmal ist. Die Frage, warum das weibliche Becken im Laufe der Evolution nicht breiter geworden ist, beschäftigt AnthropologInnen und EvolutionsbiologInnen schon seit Langem. Ein möglicher Grund: Ein schmales Becken und der damit einhergehende starke Beckenboden tragen zur männlichen Erektion bei.

Problem: Das weibliche Becken

Frauen haben deutlich breitere Becken als Männer. Dies wird als Anpassung an die Geburt relativ großer Neugeborener gesehen. Dennoch sind weibliche Becken nicht so breit, dass Geburten immer problemlos verlaufen. Dass es einen Selektionsdruck gibt, der einer Erweiterung des Beckens entgegenwirkt, gilt daher als wahrscheinlich. Was dessen Ursache ist, ist jedoch umstritten. Lange Zeit galt die Hypothese des sogenannten „obstetrischen Dilemmas“ als beste Kandidatin, der zufolge der aufrechte Gang des Homo sapiens ein schmales Becken erfordert. Empirische Belege dafür gibt es hingegen kaum. Eine alternative Hypothese stellt den Beckenboden in den Vordergrund: Ein zu breites Becken bei aufrecht gehenden Menschen würde den Beckenboden, auf dem das Gewicht des Fötus sowie der inneren Organe lastet, anfällig für Inkontinenz und ein Organabsenken (Prolaps) machen. Prolaps und Inkontinenz kommen tatsächlich vermehrt bei Frauen mit besonders breitem Becken vor. Eine Überprüfung solcher Hypothesen wird jedoch durch die begrenzte Variation hinsichtlich Anatomie und Fortbewegungsmuster innerhalb des modernen Mensch erheblich erschwert.

Forcher analysieren Becken der Säugetiersammlung

Ein internationales Team, dem auch zwei ForscherInnen der Säugetiersammlung des Naturhistorischen Museums Wien angehören, hat in einem online vorab veröffentlichten Artikel (Grunstra et al., American Journal of Human Biology: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/ajhb.23227) nun einen Weg vorgeschlagen, wie insbesondere die Beckenbodenhypothese anhand vergleichender Beckenstudien weiter untermauert werden könnte. Nicole Grunstra, eine mit der Säugetiersammlung des Naturhistorischen Museums Wien (NHM Wien) assoziierte evolutionäre Anthropologin und Erstautorin der Studie, sieht besonders Fledermäuse als erfolgversprechende Studiengruppe an: „Fledermäuse bringen die relativ größten Neugeborenen aller Säugetiere zur Welt; ihr Gewicht kann bis zu 45% desjenigen der Mutter betragen. Beim Menschen beträgt dieser Wert nur etwa 5%. Mir war aufgefallen, dass es einen ausgeprägten Sexualdimorphismus in der Anatomie von Fledermausbecken gibt: während bei Männchen das Becken verknöchert ist, sind die Becken der Weibchen ausnahmslos offen, was den Geburtskanal überhaupt erst groß genug macht, um so große Junge zu gebären. Fledermäuse sind aber auch die einzigen fliegenden Säugetiere, und die meisten von ihnen ruhen mit dem Kopf nach unten; beides Umstände, die den Druck auf den Beckenboden verringern.“

Selektionsdruck auf ein schmales Becken

Diese Entlastung, so die ForscherInnen in ihrem Artikel, könnte den Selektionsdruck auf ein schmales Becken aufgehoben haben, was es den Fledermausweibchen – im Gegensatz zum Menschen – überhaupt erst ermöglicht hätte, ihr Becken zu öffnen und derart große Neugeborene zu haben. Da es mehr als 1.000 Fledermausarten gibt, die sich in ihrem Flug- und Ruheverhalten zum Teil erheblich unterscheiden, können präzise Vorhersagen getroffen werden: Ist die Beckenbodenhypothese zutreffend, sollten erratisch fliegende sowie aufrecht in Spalten ruhende Arten aufgrund der größeren Beschleunigungskräfte auf den Beckenboden weniger stark geöffnete Becken im weiblichen Geschlecht aufweisen. Dies wird derzeit gerade mithilfe der umfangreichen Säugetiersammlung des NHM Wien weiter untersucht. Grunstra ist überzeugt, dass der Blick über den Tellerrand der Anthropologie neue Erkenntnisse verspricht: „Der Mensch ist zunächst einmal ein Säugetier, und viele der anatomischen Herausforderungen, die ihn betreffen, finden sich auch in anderen Gruppen. Ein vergleichender Ansatz ist daher ganz sicher eine Bereicherung.“

Die ForscherInnen streichen auch heraus, dass Säugetiere insgesamt eine große Bandbreite an relevanter Variation bezüglich Fortbewegung, Körperhaltung sowie relativer Größe der Neugeborenen aufweisen, sowohl was Ähnlichkeiten, als auch, was Unterschiede zur Situation beim Menschen anbetrifft. Vergleichende Studien an verschiedenen Säugetiergruppen können dazu beitragen, ein evolutionär weniger eng gefasstes Verständnis des Geburtsproblems des Menschen zu erzielen.

„Für den Menschen,“ erklärt Frank Zachos, Leiter der Säugetiersammlung des NHM Wien und Co-Autor der Studie, „ergibt sich auch ein ganz anderer möglicher Blickwinkel, den wir Mihaela Pavličev aus Cincinnati verdanken, die ebenfalls an der Studie beteiligt ist: Ein starker Beckenboden – der durch ein schmales Becken begünstigt wird – trägt eventuell zur männlichen Erektion, einem Merkmal von offensichtlicher Bedeutung für die Reproduktion, und somit auch zur evolutionären Fitness bei. Es wäre also möglich, dass die Selektion für ein schmales Becken primär über das männliche Geschlecht wirkt und eine Verbreiterung des weiblichen Beckens so lediglich indirekt verhindert wird.“

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